Ein Wort zum Sonntag

von Pastor Gert Glaser

„Ave Maria!“

Das ‚Ave Maria‘ gehört zu den Liedern, die auch in protestantischen Gottesdiensten häufig erklingen. Ansonsten tun wir Evangelische uns eher schwer mit der Mutter Jesu. Es scheint, als fürchteten wir, vom Wesentlichen abgelenkt zu werden, von demjenigen nämlich, dessen Geburt ihr der Engel im Predigttext des 4. Advent ankündigt (Lukas 1,26ff.).

Wir hatten uns auf den Weg gemacht, um den Ort aufzusuchen, wo jene folgenschweren Worte an Maria gerichtet wurden: „Sei gegrüßt, du Begnadete ...“. Ganz Nazareth ein einziger Stau. An der Schlange der Autos steht ein junger Mann mitten auf der Straße, der frische Erdbeeren an die Fahrzeuginsassen verteilt. So ist das, wenn im arabischen Nazareth Hochzeit gefeiert wird. Nicht nur das Brautpaar, auch alle anderen werden beschenkt. Nazareth liegt, obgleich mehrheitlich arabisch, nicht in den von Israel besetzten Gebieten, sondern direkt im Staat Israel. Seine Bewohnerschaft besitzt die israelische Staatsbürgerschaft. Viele sind Christen.

Schließlich steigen wir aus und begeben uns zu jener Kirche, in der der Verkündigung der Geburt Jesu gedacht wird. Eine alte griechisch-orthodoxe Kirche empfängt uns, dunkel und geheimnisvoll. Selbst junge Männer, die die Kirche betreten, tun dies voller Ehrfurcht, scheinen ergriffen und tief bewegt von der Heiligkeit des Ortes. Wir, die nüchternen Beobachter, haben das Gefühl, hier zu stören, obwohl man uns kaum wahrnimmt. Draußen erfahren wir, dass es noch eine andere Kirche gibt, die sich als Verkündigungskirche, ja als Verkündigungsbasilika ausgibt.

Typisch Heiliges Land: In Bethlehem konnte man sich nicht darauf einigen, welches nun das tatsächliche Hirtenfeld ist. So machen sich zwei Felder gegenseitig Konkurrenz. Hier, in Nazareth, hat man zwei Verkündigungskirchen gebaut, die eine griechisch-orthodox und alt, die andere katholisch, modern und angeblich die größte christliche Kirche im Nahen Osten. Als wir uns dieses riesige Betonkonstrukt ansehen, sind wir positiv überrascht. Entgegen unseren Erwartungen ist die Basilika ausgesprochen schön. Die Architektur wirkt leicht, die in kräftigen Farben gehaltenen Fenster verbreiten eine angenehme Atmosphäre in ihrem Innern. Verlässt man die Basilika durch den Haupteingang, so steht man vor einer Galerie von Mosaiken: Mariendarstellungen aus allen möglichen Ländern sind dort zu sehen. Am besten gefällt mir die Maria des arabischen Künstlers Said Tabar aus Nazareth. Die Kombination der Farben, aber auch die feine Herausarbeitung des Gewandes und seines Faltenwurfs faszinieren mich. Barfuß steht sie da, den Ort segnend. Die Szene erinnert an Moses Gottesbegegnung am brennenden Dornbusch: „Zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land“ (2. Mose 3,5)

Sehr grob wirkt dagegen das Geschenk der deutschen katholischen Kirche. Die übergroße „Herrin Deutschlands“ umarmt zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Zwischen ihnen befinden sich noch Reste einer Mauer, die durch deren Aneinanderrücken zerstört wird. Maria, die die Mauern einreißt, die die Trennung überwindet. Die Trennung in BRD und DDR. Hoffentlich auch irgendwann einmal die Spaltung der arabischen Bevölkerung Palästinas in Westbank, Ostjerusalem, Gasa-Streifen und Israel selbst. Und bitte ebenso die Spaltung der israelischen wie der deutschen Gesellschaft in Impfbefürworter und Impfgegner. „Ave mundi spes maria“. „Sei gegrüßt, Maria, Hoffnung der Welt“.

Gert Glaser.